Servas, Natur und Kultur in den Niederlanden

 Servas, Natur und Kultur in den Niederlanden

Mein Interesse an den Niederlanden ist sehr stark an die dortige Kinderliteratur gekoppelt. Es war etwas Unerklärliches, wodurch stets wieder der Gedanke kam: da sind Geschichten und Menschen, die mich interessieren. So beschloss ich 2015, meine Reiseaktivitäten in die Niederlande zu verlagern. Die ersten Jahre geschah das vorwiegend wildromantisch und ohne feste Struktur wie Servas. Manchmal besuchte ich Leute, die mir beim Trampen begegnet waren. Einmal lernte ich auf der Straße vor einem Geflüchtetencamp Syrer kennen; über diese wiederum eine Familie, die später in ein Küstendorf umzog.

Ich werde nie die ersten Stunden mit ihnen vergessen, wo wir lachten, aßen und Tee tranken, ich Flöte spielte und wir mit Händen und Füßen probierten, die erste Seite von ‚Der Blaue Mondstein‘ nach arabisch zu übersetzen. Ein paar Leute treffe ich immer nur am Strand von Den Haag und hatte nie digitalen Kontakt. 

Mit anpacken in netten sozialen Plätzen oder nach dem Schwimmen eine warme Bibliothek aufsuchen –„Müssen wir nicht eigentlich auf die Art und Weise unterwegs sein?“ fragte jemand beim Städtetreffen in Frankfurt. „Ist Servas nicht ein Luxus, wodurch man die spontane Bekanntschaft verlernt?“

„Du musst es ja nicht verlernen,“ antwortete ich. „Aber als ich zum ersten Mal mit Servas nach Holland gefahren bin, war plötzlich mehr 

Zeit da für kulturelle Veranstaltungen, und das war schön.“

Auch habe ich die langen, gemütlichen Gespräche nach dem Abendessen genossen, und es war ausnahmslos interessant, was die Hosts über das Land erzählten. 2019 ging es damit los.

Meine erste Gastgeberin war Annemiek in Amsterdam, wo ich die Woutertje Pieterse Preisverleihung und später noch eine Jugendbuchlesung besuchte. Sie war selbst in einem Lesekreis unterwegs, so dass ich eine interessierte Ansprechpartnerin hatte. Das motivierte. Von den nominierten Büchern kaufte ich später ‚De reis van Syntax Bosselmann‘, das die Kolonialgeschichte sehr ausführlich anhand fiktiver und sachlicher Kapitel erzählt. Ich war vielleicht die erste, die mit einem Fanbus zu dieser Preisverleihung gefahren ist, denn an einer Raststätte wurde ich vom Fanbus des 1. FC Köln bis Duisburg mitgenommen!

„Den Dolder aan Zee würden wir heißen, wenn es die Deiche nicht gäbe,“ erklärte Frits nach einer Tagestour mit ihm und Margreet bei Utrecht. Er hatte bei der Staatsforstwirtschaft gearbeitet und erklärte das geologische Erbe der Dünenlandschaft ‚Hoge Veluwe‘, die in der Eiszeit entstanden war. Verschiedene Karten zeigten außerdem, wo Moore trockengelegt wurden und bis wohin das Meer natürlicherweise stehen würde.

Mit Peter aus Heiloo durfte ich durch den ganzen Naturpark Zuid-Kennemerland wandern und auf einem Campingplatz bei Bloemendal übernachten, nahe am Strand. Ich höre noch die Stille, den Kiebitz und die Heidelerche mit ihrem seltsamen Gesang. 

Im selben Jahr wurde ich zuhause auf die ‚Grote Vriendelijke Podcast‘ über Jugendliteratur aufmerksam. Die neuste Folge zeigte Fotos von zwei netten Herren in einem Strandcafé und 

Ferienbüchertipps im Sand.   „Wir sitzen auf einer Terrasse von Zandvoort,“ sagte Jaap.   „Nein, ich glaube es ist Bloemendal,“ sagte Bas. 

Bloemendal! dachte ich freudig undwar sofort zurück im wunderschönen Naturpark. Seitdem höre ich den Podcast sehr gerne, auch weil er so eine Wind-und-Wetterstimmung verbreitet. Es passiert noch mehr beim Anhören der Interviews aus dem Fach: ich sitze wieder in niederländischen und flämischen Gastfamilien am Tisch, mit all den warmherzigen und interessanten Gesprächen. Ein verlängertes Reiseerlebnis.

Dann folgte durch Corona und Schulterprobleme eine mehrjährige Pause. 

Teil 2: nach einem Ereignis

2022 reiste ich sehr spontan zur ‚Annie Schmidtlesung‘, wo Marit Törnqvist über die Herausforderung des kontroversen und wichtigen Themas Diversität sprach. Dort lernte ich endlich ein paar Leute kennen. 

Dieses Jahr schaute ich bereits im Februar, wann diese Lesung wieder stattfinden würde, und da wurde plötzlich alles anders. Statt der ersten Eventankündigung stand auf literarischen Webseiten eine Solidaritätserklärung mit Pim Lammers. Ich traute meinen Augen nicht als ich las, dass ein junger Autor, der charmante Bilderbücher über Gender und Diversität schreibt, aus rechten Kreisen Todesdrohungen erhalten hatte. Nein, dachte ich, nein. Das darf nicht passiert sein. 

Ich schaltete den PC aus und ging hinaus in die Nacht. 

Nach einer stillen einsamen Verarbeitung begann ich dieSache in Deutschland weiter zu erzählen. Leute zu erstaunen, zu erschrecken und die ganzen Themen dahinter durch zu sprechen. Bürokratische Angriffe auf Kinderliteratur. Militarisierte Sprache und militarisierter Umgang miteinander. Innere Zerrissenheit über Diversität, die wir nicht nach außen zeigen, und noch viel mehr was den Weg bereitet für gruppenbezogenen Menschenhass. 

Und dann war es auch schon wieder Mai, die Lesung und meine Reise standen bevor. Und ich merkte, wie die letzten Jahre am Vertrauenin den Mensch gezehrt hatten.

Bis zur Grenze fuhr ich mit der Bahn, stellte mich dann aber kurzentschlossen an einen Parkplatz und nach fünf Minuten hielt eine Frau, die mich zur Autobahn mitnahm. 

Auf zur Veranstaltung! 

„Ich kann dich am Bahnhof von DenHaag absetzen,“ sagte der letzte Fahrer. Dort wäre in der Tat die Lesung um acht, es war aber erst halb vier. „Kommst du zufällig in der Nähe vom Strand vorbei?“ „Ja ich wohne in der Nähe, kann dich da absetzen!“

Da war sie dann, die See; unentbehrlich auf jeder Hollandreise, kalt und schön. Nach dem Schwimmen setzte ich mich in die Sonne und wiederholte nochmal die Gedichte, die ich für meine Gastgeber Chris und Harm auswendig gelernt hatte mit passender Musik dazu. Sie haben nämlich 20-jähriges Hochzeitsjubiläum gefeiert. 

Nach einer Weile wurde es zu kalt und ich machte mich auf den Weg in die Koninklijke Bibliotheek.

Da war es, das Kinderbuchmuseum wo in zwei Stunden alle eintrudeln würden. Ein paar waren schon am Vorbereiten. Ich stand am Fenster, hörte bekannte Stimmen im Hintergrund und fühlte die innere Unruhe der letzten Monate. Und auch die Freundlichkeit an dem Ort. Ich liebe die Momente, bevor etwas anfängt. Manchmal steigt Angst auf wie ein Morgennebel, der sich langsam verflüchtigt. 

Jean-Claude van Rijckeghem gelang ein amüsanter und ansprechender Themenkomplex rund um ‚ernst genommen werden‘ und ‚mit Freude lesen und schreiben‘. Der belgische Humor, mit dem er sich selbst als Jugendlichen beschrieb, machte ihn zum tragikomischen Helden, von denen er noch viele weitere nannte. 

Ein paar Sekunden schweifte ich doch ab und dachte zum ersten Mal, wie ich jetzt eigentlich aushalten sollte, dass ich zwei Stunden alles schon vorbei wäre. Beim Drink stand ich erstmal irgendwie sprachlos alleine herum. Der Tag hatte um halb fünf angefangen. Setzte mich auf eine Bank und dachte tief durchatmend: ich bin jetzt einfach hier. Nach einer Weile kamen wieder Gespräche in Gang. Ich finde es bemerkenswert, wie mit großer Freude weitergearbeitet wird und alle sagen: jetzt schreiben wir erst recht, was uns begeistert. 

Auch Harm kam positiv darauf zu sprechen, wie sich Literaturleute massenhaft hinter Pim Lammers gestellt hatten. Das war das Schöne bei Servas: die Auseinandersetzungen gingen einfach weiter. 

In derkleinen grünen Oase von Harm und Chris hatte ich schon früher gerne gesessen, Tee getrunken und mit ihnen das Taubenkino beobachtet. Oder mit dem Kater auf der Couch übernachtet. Sie leben in einer multikulturellen Gegend von Rotterdam. 

In den Tagen darauf machte ich eine Küstenwanderung und besuchte syrische Freunde. Die Kinder, mit denen ich oft gelesen und musiziert hatte, waren groß geworden. Aber viele Menschen bleiben im Herzen jung.

Danke an alle GastgeberInnen, die meine Passion geteilt haben! 

Und für die Unterhaltungen über niederländische Grammatik und Flandern, über Gaza, über Journalisten und ihre Fragen, Calvinismus, Jugendliche, Autismus… 😊 

Copyright und Fotos: 

Annina, Lehrerin aus Hessen

Quellen: Wellenbild: www.kunst-foerster.de

Nationalparks: https://www.np-zuidkennemerland.nl/und https://www.hogeveluwe.nl/de

Wer Interesse an folgenden Links hat, schreibt bitte direkt die Autorin an:

Podcast über Jugendliteratur

Lesung über Jugendliteratur